Bilder des Unerkennbaren

Herausgegeben von Erik Hornung und Andreas Schweizer

Der Band vereint die Beiträge der Eranos Tagungen in der Casa Serodine, Ascona, von 2007 (Das unzerstörbare Leben) und 2008 (Bilder des Unerkennbaren).

 

Eranos Tagung 2007: DAS UNZERSTÖRBARE LEBEN 

Bernhard Maier
Jenseitsvorstellungen und Seelenwanderungslehre der Kelten 

Der Begriff der «Kelten», einst ein Sammelbegriff für Völker in Mittel- und Westeuropa, wurde erst im 18. und 19. Jahrhundert auf die Bewohner der Britischen Inseln und Irlands ausgeweitet. Die antike Vorstellung von einer keltischen Seelenwanderungslehre und von pythagoreischen Einflüssen auf die Druiden hält der neueren Forschung nicht stand. Auch Caesars Bericht von den Druiden ist mit Skepsis zu begegnen. Die späteren Berichte sind meist christlich gefärbt. So sieht Bernhard Maier in der berühmten Erzählung vom Königssohn Connlae eine christliche Erzählung, in welcher die geheimnisvolle Frau den Helden von der heidnischen Welt der Druiden ins christliche Paradies entlockt. Der Vortrag hat deutlich gemacht, wie schwierig die Quellenlage der keltischen Religionsgeschichte ist. 

Herbert Pietschmann
«Etwas ist lebendig nur insoferne es den Widerspruch in sich enthält» (Hegel) 

Herbert Pietschmann führt uns als theoretischer Physiker in eine neue Welt ein. In gewohnt souveräner Weise verbindet er schwierige Fragen der Mathematik und der Quantenmechanik mit philosophischen Ausblicken. Nach einer Einführung über den Aristotelisch-logischen Weg und die Dialektik des Platon, welch letztere sich ausdrücklich mit Aporien (unauflösbaren Widersprüchen) beschäftigt, wird die Frage aufgeworfen, wie die Mathematik das Phänomen der Aporien angeht. Was Pietschmann als «operationale Bewältigung» bezeichnet, ist die Erkenntnis, dass die Mathematik lernen musste, anders mit Aporien umzugehen, als sie einfach im Sinne eines logischen Widerspruches zu eliminieren. In der Physik führte der Weg zunächst zum gänzlichen Verzicht auf die Beschreibung der gegebenen Welt (17. Jh.). Diese Entwicklung gipfelte im 18. Jahrhundert in einem vollständigen Determinismus, in welchem alles (erfüllte) Leben und damit auch der Mensch in seiner Freiheit eliminiert wurden. Das änderte sich fundamental mit der Einführung der Quantenmechanik, die der Vortragende in einem Satz zusammengefasst hat: «In der Quantenmechanik werden die Eigenschaften eines Objektes durch die Messung nicht festgestellt, sondern erst hergestellt!» Die Beobachtung der komplementären Natur des «Welle-Teilchen-Dualismus» führt eine echte Synthese herbei, die ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, um den Menschen und sein widersprüchliches Wesen wieder in echter Weise in die Wissenschaft einzubeziehen. 

Othmar Keel
Ist das ein Leben? Elemente eines gelungenen Lebens in der alttestamentlichen Literatur 

Der Beitrag befasst sich mit dem hebräischen Denken, in dem Leben in erster Linie bedeutet, lebendig zu sein im Sinne der Lebensfülle. Entsprechend werden Krankheit, in der Fremde weilen müssen, und andere Leidenszustände mit der Nähe zum Tod verbunden. Zu einem guten Leben gehören Gesundheit, Brot und Wein, all jene Gaben, die Gott dem Menschen schenkt. Im Gegensatz zur christlichen Interpretation von Genesis 1,27, die die Aussage, dass Gott den Menschen männlich und weiblich geschaffen hat, gerne ignoriert, betont die jüdische Tradition, dass nur beide zusammen, Mann und Frau, eine Ganzheit bilden und so Gott abbilden können. Othmar Keel zeigt auf, dass auch die etwas ältere Geschichte von der Erschaffung des Menschen in Genesis 2 als Erschaffung von Mann und Frau zu verstehen ist, denn es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Nur im Gegenüber ist ein erfülltes Leben möglich, und trotz aller Widrigkeiten des Lebens scheiden die meisten Menschen nach dem Tenor der Hebräischen Bibel mit der Überzeugung aus dem Leben: «Wie es auch sei, das Leben, es ist gut!» 

Ruedi Högger
Das indische Linga – Ursprung und Werdekraft des Universums 

Das in die prähistorische Indus-Tal-Kultur zurückgehende Symbol der phallischen Gottheit unbekannten Namens ist in geschichtlicher Zeit mit Shiva verbunden worden, um dessen göttliche Schöpferkraft zum Ausdruck zu bringen. Schon in den Upanischaden wird das linga auch als Ausdruck seelischer Wirklichkeit gedeutet. Hier weist es auf das unzerstörbare Wesen des inneren Feuers, das heisst der göttlichen Essenz, in jedem einzelnen Menschen hin. Das linga bedeutet weit mehr als naturhafte Fruchtbarkeit; es symbolisiert eine körperliche und seelische, physiologische und spirituelle Schöpferkraft. Als männliches Symbol wird das linga durch die yoni – durch das weibliche Geschlecht und den Mutterschoss – ergänzt. Schöpferische Potentialität und die oft durch die Schlange verdeutlichte, verwirklichende yoni-Kraft treten in die harmonische Verbindung der Zwei-Einigkeit. Das linga mit den vier oder fünf Gesichtern schliesslich verkörpert die Allgegenwart Shivas im Kosmos, seine den Kosmos füllende Energie, wobei das fünfte Auge, das über den Kosmos hinausblickt, verdeutlicht, dass Ursprung und Ziel des Göttlichen ausserhalb des Kosmos liegt. Von dort, jenseits der Welt aller Erscheinungen (Maya), stammt letztlich alle Schöpferkraft. So ist das linga nicht nur ein Bild des unzerstörbaren Lebens, sondern auch ein Bild des Unerkennbaren, aus welchem die Welt je und je neu erschaffen wird. 


Tagung 2008: BILDER DES UNERKENNBAREN 

David Senn
Verborgener Bauplan und sichtbare  Abwandlungen bei schwimmenden, fliegenden und greifenden Wirbeltieren 

David Senn gelingt es, Bilder des verborgenen Bauplans, der den verschiedensten Wirbeltieren gemeinsam ist, sichtbar zu machen. Dabei weiss sich dieser Bauplan jeweils dem unterschiedlichen Lebensraum in erstaunlicher Weise anzupassen. Flügel und Arme, Beine und Flossen, sind Zweige am gleichen Stamm der langen Entwicklung, die in der so vielseitig verwendbaren menschlichen Hand gipfelt. In David Senns Referat wird immer wieder die Erinnerung an seinen Lehrer Adolf Portmann wach, dem die vergleichende Morphologie der Wirbeltiere so besonders am Herzen lag. 

Philipp Felsch
Humboldts Kosmos – Zur Geschichte einer Überforderung 

Philipp Felsch zeigt an einem Thema aus der Wissenschaftsgeschichte, wie das neue ganzheitlich-systematische Bild der Natur, das Alexander von Humboldt zu erarbeiten suchte, angesichts der «Berge von Daten» zur Überforderung führt, zu einem Ringen um Vollständigkeit, die nie ganz zu erreichen ist. Dies wird am Schicksal der Brüder Schlagintweit und ihrer Forschungsreisen in Indien besonders deutlich. Schon Humboldt hatte versucht, den traditionellen Reisebericht durch eine mehr an den Bildmedien orientierte Darstellung zu ersetzen, die reichen Gebrauch von Grafiken und Tabellen mache. Doch auch diese Hilfsmittel konnten die Lesbarkeit der Welt nicht entscheidend verbessern. 

Gotthilf Isler
Einige Überlegungen zum unus mundus – Die Ganzheit der Welt als Erkenntnisproblem

Im Beitrag von Gotthilf Isler stehen Volkssagen und archetypische Träume in Vordergrund, also Botschaften aus dem Unbewussten, die es zu entschlüsseln gilt. Die im Grunde genommen sehr moderne Frage nach der Ganzheit oder Einheit der Welt, dem unus mundus, hat alle Bemühungen der Alchemie durchdrungen, die Materie als beseelt zu denken, aber sie gewann eine neue Aktualität, als C. G. Jung begann, sich dem Geheimnis der Synchronizität zuzuwenden, der nicht-kausalen Verknüpfung von Ereignissen, in der sich physische und psychische Wirklichkeiten aufs neue schöpferisch miteinander verbinden. Wie der Referent ausführt, scheint es, dass die symbolisch zu verstehenden Träume und Sagen – kompensatorisch zur christlichen und auch modernen Einseitigkeit des bewussten Standpunkts – von der Beseeltheit der Natur, auch der anorganischen Natur, sprechen und zu einer Aufwertung der Materie tendieren. Letztlich ginge es um eine umfassende Anerkennung der Göttlichkeit nicht nur des väterlichen Geistes, sondern auch der Materie und des Weiblichen. Ein solch erweitertes Weltbild beruhte wohl auf einer Weiterentwicklung des menschlichen Bewusstseins, wie sie symbolisch in vielen Volkssagen und auch im Emblem von Eranos in zeitloser Prägung vorgebildet ist. 

Hubert Herkommer
Was kein Auge gesehn und kein Ohr gehört – Sinnliche Wege zum Übersinnlichen

Hubert Herkommer zeigt anhand der Trostschrift des Lutheraners Philipp Nicolai «Freudenspiegel des ewigen Lebens», die inmitten des furchtbaren Wütens der Pest entstanden ist, in eindrücklicher Weise, wie dieser auf das Unfassbare reagiert. Nicolai entwirft eine mystisch-eschatologische Seelenstimmung, eine Liebesmystik, die sich an die himmlische Glückseligkeit im Sinne Augustins und an die Minnelyrik anlehnt. Er fügt seinem Freudenspiegel vier Lieder bei, darunter das Lied «Wachet auff /rufft vns die Stimme». Der Bräutigam kommt jetzt! (Matthäus 25,1–13) Darin distanziert sich Nicolai vom Land der Seligen der antiken Mythologie (Homer, Vergil). Die dritte Strophe endet im enthusiastisch-jauchzenden Schluss: «Dess sind wir froh/ jo/ jo. Ewig in dulci iubilo.» Letzteres stammt aus der Vision von Heinrich Seuse von den tanzenden Jünglingen, die mit ihrem himmlischen Reigen das Leiden vergessen machen wollen. In tiefster Not werden uralte Bildquellen aktiviert, die das absolut Unerkennbare umkreisen. Auch die Salve-Regina-Miniatur im Sforza-Stundenbuch der Margarete von Österreich, die der Autor im zweiten Teil seines Beitrages dem Leser in genialer Weise erhellt, will das Unerkennbare in dieser Welt erkennbar machen. Der Hofmaler Gerard Horenbout hat die fehlenden Teile des Stundenbuches ersetzt und dabei ein marianisch-musikalisches Kleinod geschaffen. Darin rückt der Himmel hör- und sichtbar nahe. Das Werk mit seiner Darstellung eines polyphonen Engelgesangs zeugt von einer innigen, ja mystischen Frömmigkeit, wie sie dem Anliegen der Devotio moderna entsprach.