Schönheit und Mass

Herausgegeben von Erik Hornung und Andreas Schweizer

Der Band vereint die Beiträge der Eranos Tagungen in der Casa Serodine, Ascona, von 2005 (Göttliche Schönheit) und 2006 (Menschliches und kosmisches Mass).

Eranos Tagung 2005: Göttliche Schönheit

Josef van Ess
Schönheit und Macht. Verborgene Ansichten des islamischen Gottesbildes

Der Tübinger Islamwissenschafter Josef van Ess spürt dem Motiv des Göttlichen Knaben in der Islamischen Tradition nach. Schon in der frühesten Prophetenüberlieferung hören wir von einer Vision Mohammeds, in welcher dem Propheten die Schönheit des göttlichen Knaben erschienen ist. Der nächtliche Beter schaut Gott in seiner schönsten, jugendlichen Gestalt. Das Motiv wird in Syrien und im Iran aufgegriffen und entwickelt sich in der Islamischen Mystik zu einem zentralen Gedanken. Immer aber versagt sich der Knabe in seiner Liebe, weil dessen Hingabe Gottes Erhabenheit zerstören würde, denn Schönheit und Erhabenheit sind die beiden wichtigsten Attribute Gottes. In später Zeit gleitet die Vorstellung vom Göttlichen Knaben dann immer mehr ins Poetische ab.

Hubert Herkommer
Die Schönheit des Gottessohnes und der Gottesmutter.
Historische Betrachtungen zur Ästhetik des Heiligen

Hubert Herkommer zeigt in seinem Beitrag, dass die Schönheit des Gottessohnes und der Gottesmutter in der Spätantike und im Mittelalter von grösster Bedeutung war. Maria wird als die "Sonnenumglänzte, Sternenbekränzete", als "Leuchte und Trost auf der nächtlichen Fahrt" besungen, und Jesu Schönheit überstrahlt alle irdische Schönheit. Dabei folgen die körperlichen Masse einem ganz bestimmten Ordnungsmuster. Entsprechend dieser Ästhetik des Masses und der Proportionen wird die Schönheit bei Thomas von Aquin mit der Sittlichkeit gleichgesetzt, so dass das Schöne mit dem Guten austauschbar wird. Im zweiten Teil kommt der Autor auf die seit dem frühen Christentum etablierte "typologische" Schriftauslegung zu sprechen. Das Alte Testament wird ganz im Blick auf die fortschreitende Heilsgeschichte interpretiert. Dadurch hat es seinen autonomen Charakter verloren, was das fruchtbare Gespräch zwischen Juden und Christen für fast zwei Jahrtausende blockiert hat. So weist etwa die Figur des Moses auf Christus hin, und wenn jener ein "schönes Kind" war, so gilt das in noch viel stärkerem Masse für Christus. Die schon im Alten Testament angelegte Antithese von Schönheit und Hässlichkeit kann nur durch die Augen der Liebe überwunden werden. Hubert Herkommer schliesst seinen Gedankengang mit Angelus Silesius: "... So sag ich klar und frey, dass du O JEsu Christ,/ Die ewge Schönheit selbst und unvergleichlich bist:/ Drumb ist es besser schweigen."

Claudine Bautze-Picron
Der Buddha und die Wandlung seiner Erscheinungen

Der Beitrag von Claudine Bautze-Picron gilt den Wandlungen der Ikonographie des Buddha. Das Bild des Buddha steht zwischen der historischen Wirklichkeit und der geistigen Vollendung und offenbart die Gleichzeitigkeit dieser nur scheinbar gegensätzlichen Gesichtspunkte des menschlichen Wesens, das sowohl dem Alltag verhaftet, als auch von der Sehnsucht nach Spiritualität erfüllt ist. Beginnend mit der Wiege der indischen Ikonographie in der Gegend um Mathura schildert die Autorin die lebendige Wechselwirkung der verschiedenen Kunstschulen, die sich stets streng kompositorischen Regeln unterworfen haben. Darin reichen die Darstellungen Buddhas von der Repräsentation der Wirklichkeit der irdischen Welt bis zum völlig transzendenten Wesen, das sich nicht mehr in das irdische Weltgeschehen einfügt. In aller Verschiedenheit bleibt das Kultbild Buddhas ein Widerhall unserer selbst und erschafft gerade in seiner lebendigen Vielfalt eine geistige Ebene, einen besseren und vollkommeneren Gesichtpunkt unserer selbst.

Othmar Keel
Das Hohelied – Schönheit der Form oder tiefere Bedeutung?

Othmar Keel zeigt auf, wie sehr der Schönheitsbegriff der abendländischen Geistesgeschichte von Platon bestimmt ist: Das Schöne, sei es der schöne Knabe oder die schöne Frau, ist nur ein schwacher Abglanz des eigentlich Schönen, der Idee der Schönheit. Plotin wiederum betont die Gemeinsamkeit alles Schönen mit dem Göttlichen, weshalb die grösste Schönheit nicht mit den Sinnen, sondern nur mit der Seele erkennbar ist. Das führt dazu, dass das Schöne zum Abglanz des Guten wird. In seinen Gedanken zur Auslegungsgeschichte des Hohenliedes greift Othmar Keel auf die altorientalische Auffassung des Schönen zurück. Dabei sind die im biblischen Text verwendeten Metaphern nicht realistisch-naturalistischer, vielmehr symbolischer Natur. Wenn der Dichter beispielsweise die Nase als "Turm" bezeichnet, so will er damit den Stolz der Geliebten betonen. Ganz ähnlich ist die Metapher von den Blicken, die Tauben sind, zu verstehen: Die Geliebte schaut mit den Augen der Liebesbotin, denn diese verkörpern die Tauben. So ist die sinnliche Schönheit in der hebräischen Bibel im Gegensatz zur europäischen Tradition nicht bloss Abglanz, Schatten und schwacher Reflex einer wie immer beschriebenen transzendenten idealen Schönheit, sondern ein Phänomen der Konzentration: Im Geliebten und der Geliebten ist das Eigentliche, was das Leben lebenswert macht, konkret gegenwärtig. Das symbolischen Denken orientiert sich ganz an der konkreten Beobachtung der Natur.

 

Eranos Tagung 2006: Menschliches und kosmisches Mass

Stefan M. Maul
Ringen um göttliches und menschliches Mass.
Die Sintflut und ihre Bedeutung im Alten Orient

Stefan Mauls Beitrag handelt vom Ringen um göttliches und menschliches Mass, das heisst um die Errichtung einer stabilen, harmonischen und verlässlichen Ordnung zwischen Menschen und Göttern in den Sintfluterzählungen Mesopotamiens. Noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts war die Autorität der Heiligen Schrift durch die Existenz einer gegenüber der hebräischen Bibel um Jahrhunderte älteren "heidnischen" Fassung der Sintflutgeschichte mit ihren bis in Einzelheiten gehenden Parallelen ein derartiger Skandal, dass sich Kaiser Willhelm II. genötigt sah, einzugreifen und die assyriologischen Studien zu verteidigen. Dabei wussten schon Historiker wie Flavius Josephus und vor allem Eusebius, ein Kirchenhistoriker aus konstantinischer Zeit, von einer eigenen babylonischen Sintfluttradition zu berichten. Im Zweistromland geht die Vorstellung von der Weltenflut bis in das dritte vorchristliche Jahrtausend zurück. Vor allem das babylonische Atramchasis-Epos reflektiert in formvollendeter poetischer Sprache das Ringen der Götter um das rechte Mass zwischen Tod und Leben, Zerstörung und Erhaltung der Welt. Anders als in der Bibel, wo die Sintflut in der Sündhaftigkeit der Menschen begründet ist, soll die babylonische Flut lediglich dem den Göttern lästig gewordenen lärmenden Treiben der Irdischen ein Ende bereiten. Nur das Eingreifen des Weisheitsgottes Ea kann dem vernichtenden Zorn des Götterkönigs Enlil ein Ende bereiten und so den Fortbestand der Menschheit retten. Doch mit der Sintflut ist der Tod in die Welt gekommen. Das Todesschicksal des Menschen ist der Preis für das ausgewogene Mass, das der Gegenwartswelt auf Dauer ihre Stabilität und Sicherheit verleiht.

 

Andreas Schweizer
«Das Mass des Mannes ist seine Gefährtin» (Komarios)
Irdisches und göttliches Mass in der Alchemie

Den Ausführungen von Andreas Schweizer liegt ein Zitat der Alchemistin Kleopatra aus dem Komarios Text (1. Jh. n. Chr.) zugrunde: "Das Mass des Mannes ist seine Gefährtin". Schon die griechischen Alchemisten sehen in der Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen, dargestellt im Bild der Liebesvereinigung, das zentrale Thema ihrer Forschungen. Sie haben erkannt, dass jedem Aufstieg zur kosmischen und ewigen Sphäre, zur Welt des Geistigen und Männlichen, der Abstieg zum Irdischen, zur Welt der Materie und des Weiblichen, folgen muss. Zwar soll das kosmische Mass durchaus seine Gültigkeit behalten, aber es muss, um ganz zu werden, durch das menschliche Mass ergänzt werden. Der heutige Mensch ist mit der Dunkelheit seiner Seele, die sich unter anderem in seiner Masslosigkeit manifestiert,  konfrontiert. Dabei könnte ihm der Schatz an ewigen Bildern, wie ihn die Alchemisten geschaffen haben, helfen, das Mass des Menschenmöglichen nicht zu überschreiten. Es war ein dunkler Geist, dem die Alchemisten gedient haben, doch sie haben erkannt, dass ihm gegenüber vor allem eines angebracht ist: Gottesfurcht, damals wie heute.

 

Erik Hornung
Die Vermessung der Unterwelt. Altägypten als Kultur des Masses

 Erik Hornung, der im letzten Moment für Jan Assmann eingesprungen ist, zeigt, dass die genauen Masse der Unterwelt, wie wir sie etwa im Amduat (1500 v. Chr.) vorfinden, vom Ägypter nicht konkret verstanden worden sind, sondern eine gewisse Vertrautheit mit den Jenseitsräumen vermitteln wollten: Die Sonne stürzt nicht ins Bodenlose, selbst wenn sie auf ihrer Nachfahrt Bereiche des Nichtseins und der Urfinsternis berührt. Zeit und Raum im Jenseits übersteigen alle irdischen Masse, so dass vom Toten etwa gesagt werden kann, dass er "Millionen von Jahre" überblickt (Totenbuch Spruch 42). Die Frage nach dem Alter der Erde, wie sie in der beginnenden Neuzeit so wichtig wurde, war im alten Ägypten nebensächlich. Wenn Echnaton von 'Millionen von Sedfesten, die ihm sein Vater Aton zugedacht hat,' spricht, dann deshalb, weil das Erneuerungsfest allein dem König vorbehalten war. Erik Hornung nennt dies die Hierarchie der Masse. Entscheidend aber ist immer das richtige Mass, wie es in der Idee der Maat zum Ausdruck kommt, das heisst, die Stimmigkeit der Welt, sei es im kosmischen oder im menschlichen Bereich. Die rechte Ordnung soll dabei weder übertrieben noch vernachlässigt werden. Ein schönes Beispiel dafür ist, dass die Symmetrie in der altägyptischen Kunst zuweilen bewusst durchbrochen wird. Nur so entsteht eine Kultur des rechten Masses, die dem Streben nach Ausgewogenheit und Harmonie gerecht werden kann.