Jenseitsreisen

Herausgegeben von Erik Hornung und Andreas Schweizer

Der Band vereint die Beiträge der Eranos Tagungen in der Casa Serodine, Ascona, von 2009 (Himmelsreisen) und 2010 (Unterweltsfahrten).

 

Eranos Tagung 2009: HIMMELSREISEN 

Susanne Plietzsch
Himmelsreisen im antiken Judentum 

Im Mittelpunkt des Beitrags von Susanne Plietzsch über die antike jüdische Himmelsreise stehen die Erzählungen vom Aufstieg des Mose zum Sinai aus dem babylonischen Talmud und der Midraschsammlung Pesikta Rabbati. Anders als bei den islamischen Himmelsreisen steht im babylonischen Talmud nicht die mystische Erfahrung, die Schau Gottes, im Vordergrund, sondern der Auftrag an Mose, dem Volk Israel die Tora zu bringen. Auf seiner Himmelsreise wird Mose von verschiedenen Engeln bedroht, und nur dank Gottes Eingreifen gelingt es ihm immer wieder, diese zu besiegen. Im zweiten Text, in welchem Mose auf einer Wolke zum Himmel auffährt, wird die himmlische Sphäre, vor allem aber die ungeheure Faszination des Thrones, anders als in der talmudischen Erzählung, in aller Ausführlichkeit beschrieben. Die Thronvision wird zur mystischen Schau. Es gelingt Susanne Plietzsch anhand dieser Texte, die noch viel zu wenig bekannt sind, dem Leser einen tiefen Einblick in jene jüdische Schriften zu vermitteln, die in vielfältiger Weise von der Schönheit Gottes und seines Thrones erzählen. Was die jüdische Mystik und deren Ursprung betrifft, vor allem deren Spannungen zwischen individuell-erfahrungsorientierter und institutionell etablierter Religiosität setzt die Autorin andere Akzente als Gershom Scholem, der grosse Meister der jüdischen Mystik. Damit ermöglicht sie neue Perspektiven. 

Regine Schweizer-Vüllers
«Siehst du nicht, in welchen Tempel du gekommen bist?;» Der grosse Traum des Scipio – eine Himmelsreise im alten Rom 

Im Beitrag von Regine Schweizer-Vüllers kommen wir in kosmische Dimensionen. Er behandelt den sogenannten Traum des Scipio, den Cicero ganz am Schluss seiner Schrift über den Staat erzählt. Dieser Traum führt ins Jenseits und vermittelt eine Schau oder Vision des ganzen damals bekannten Kosmos. Scipio sieht die Sterne und Planeten und hört die Musik der Sphären. Tief unter sich erkennt er die Erde in ihrer Kleinheit. Im Grunde wird hier die Erfahrung eines Gottesbildes beschrieben, was die Autorin in eindrücklicher Art auf dem Hintergrund der Psychologie von C.G. Jung psychologisch deutet. Der Traum wird für Scipio zu einem überwältigenden Erlebnis, das seinem Leben auf der Erde einen neuen, tieferen Sinn gibt, und ihm, wie sich die Autorin ausdrückt, eine «Auffassung oder ein Bild von der Ewigkeit und der Unsterblichkeit der Seele» vermittelt. Es ist Regine Schweizer gelungen, dem Leser das antike Weltbild in verständlicher Weise zu vermitteln, das heisst ein Bild von jenem Kosmos zu zeichnen, den die Menschen der hellenistischen Zeit nicht nur im Lichte des Schicksalszwanges der Planetensphären, sondern eben auch als Tempel erfahren haben: «Siehst du nicht, in welchen Tempel du gekommen bist» wird der Träumer von einer Gestalt im Jenseits gefragt. Psychologisch gesehen können wir diesen Tempel im Jenseits als Bild einer seelischen Ganzheit deuten, die seit je im Symbol des Mandalas ausgedrückt wird. Der Kosmos ist ein grosses, klingendes, kreisendes Mandala. Der Beitrag schliesst mit einem Vergleich der Himmelsreise des Scipio und den Erfahrungen, die C.G. Jung in seinen kosmischen Visionen während einer schweren Krankheit gemacht hat. 

Sebastian Günther
Himmelsreisen im Islam: Orientalische Jenseitsvorstellungen zwischen Theologie und Literatur 

Sebastian Günther, der Verfasser des ersten Beitrags über die Jenseitsreisen im Islam, hat es treffend formuliert, wenn er sagt, dass all diese Erzählungen göttlich inspirierte «Pädagogik» sind, die auf dem schöpferischen Mutterboden des Bewusstseins gedeihen. Sebastian Günther gelingt es, diese «Pädagogik» anhand der Islamischen Himmelsreisen in profunder Weise zu vermitteln. Seine klar formulierten Ausführungen über islamische Paradiesvorstellungen und Himmelsreisen seien jedem Leser ans Herz gelegt, der sich eine Einführung in einige der wichtigsten Vorstellungen des Islams wünscht. Im Zentrum der Ausführungen steht die berühmte Erzählung von Muhammads Himmelfahrt: Begleitet vom Erzengel Gabriel reitet der Prophet in einer Nacht von Mekka nach Jerusalem und steigt hier über eine Leiter durch die sieben Himmel bis zum höchsten Himmel auf, um Gottes Thron zu schauen. Sebastian Günther zeigt, wie diese Erzählung durch viele Jahrhunderte hindurch vor allem die persischen Mystiker inspiriert hat. Dabei wird der Leser hineingenommen in die Welt des himmlischen Lotusbaumes, von welchem der Mystiker Ghazali gesagt hat, dass er an der Grenze alles Wissens steht und den geistigen Frieden sowie die spirituelle Erfüllung symbolisiert. Wir könnten sagen, die Suche nach spiritueller Erfüllung steht hinter allen Erzählungen der Himmelsreise. 

Bruno Binggeli
Lift Off! - Weltraumforschung und Himmelfahrt 

Die Thesen des Astrophysikers und Galaxienforschers Bruno Binggeli sind provokativ, modern im besten Sinne des Wortes, man könnte auch sagen, zukunftsweisend: Die Berichte aus der Antike über Himmelsreisen sind von demselben Antrieb beseelt wie die gesamte Weltraumfahrt. Bruno Binggeli plädiert dafür, die einst in der arabisch-christlichen Welt existierende Resonanz zwischen dem kosmischen Aussenraum und dem seelischen Innenraum, zwischen Mikro- und Makrokosmos wiederherzustellen; denn, so sein Argument, unsere Spiritualität steht in Resonanz mit dem natürlichen Himmel. Mit dem heliozentrischen Weltbild der Neuzeit (Kopernikus) ist der antike Sphärenkosmos, dessen Mittelpunkt die Erde war, verloren gegangen. Damit hat sich, und erst Giordano Bruno hat das im vollen Umfang erkannt und ist dafür im Jahre 1600 in Rom öffentlich verbrannt worden, das Tor zur Grenzenlosigkeit aufgeschlossen. Als Antwort darauf trat in der Folgezeit das Stoffliche und Mechanische in den Vordergrund. Die Transzendenz wurde zur Immanenz. Erst in der modernen Kosmologie und Weltraumforschung erhält der Kosmos wieder seine ursprüngliche Kugelgestalt. Damit nicht genug: Bruno Binggeli bringt faszinierende Beispiele der Verwandtschaft zwischen der modernen Astrophysik und dem Neuplatonismus. So fordert er denn im Anschluss an Wolfgang Pauli, C.G. Jung und andere die grundsätzliche Anerkennung der Komplementarität, das heisst, ein Weltverständnis des Sowohl-als-auch, das beide Seiten der Wirklichkeit, das Quantitative und das Qualitative, das Physische und das Psychische, miteinander vereint und als gleichwertig anerkennt. Tatsache aber ist, so der Autor, dass die heutige Himmelfahrt und Weltraumforschung eher ein Eroberungsfeldzug ist als eine Pilgerreise. Er schliesst seinen hervorragenden Beitrag mit dem Plädoyer für eine bewusste Wahrnehmung und Integration des Symbolischen in der Weltraumforschung, denn nur das gibt Sinn und nur das, so möchte ich ergänzen, kann der Ganzheit gerecht werden. 


Tagung 2010: UNTERWELTSFAHRTEN 

Mauro Guindani
Nel mezzo del cammin di nostra vita… Das Unsagbare in Dantes Komödie 

Der Tessiner Mauro Guindani erweist sich als ein grosser Kenner und Liebhaber von Dantes Göttlicher Komödie. Je länger wir seinen Gedankengängen folgen, desto mehr wird klar, weshalb er Dante den «Minnesänger des Jenseits» nennt. Der dolce stil novo, der süsse neue Stil, in welchem Dantes sprachschöpferische Verse verfasst sind, ist durchdrungen von Einflüssen der provenzalischen Troubadoure. Was für ein geniales Werk die Göttliche Komödie ist, zeigt uns der Autor durch seine Ausführungen zur Metrik und Dramaturgie eines bis ins kleinste Detail durchgeführten Gesamtkunstwerkes, in welchem die Form des Werkes dessen Inhalt widerspiegelt. Begleitet vom Geist Vergils, dem grossen Vorbild Dantes, durchschreitet der Wanderer und Pilger die verschiedenen Räume des Jenseits, hinunter in die Hölle und hinauf zu den beati genti, den seligen Leuten des Läuterungsberges, an dessen Spitze sich der Garten Eden befindet, der Ausgangspunkt zum Paradies, wo Dante durch Beatrice empfangen wird, während Vergil nun zurückbleibt. In der Hölle durchlebt der Wanderer ein Wechselbad der Gefühle bis zum Schreckensbild des in Eis erstarrten Teufels. Er muss lernen, wie Mauro Guindani in seiner eindrücklichen Deutung sagt, das Leiden und die damit verbundenen Emotionen auszuhalten, er muss der Erinnerung an ein verlorenes Glück absagen, denn diese bedeutet ewige Qual. Schliesslich aber, auf dem Läuterungsberg, kann sich der durch die düsteren, von Höllenlärm erfüllten Gänge der Unterwelt wandernde Pilger von der dunklen emotionalen Last der Erinnerung befreien. Doch noch steht ihm eine neue Prüfung bevor: Der Weg zum Läuterungsberg führt ihn am Teufel vorbei. Der Wanderer im Jenseits muss, wie Mauro Guindani es so treffend formuliert, durch das Böse hindurchgehen. Erst diese Bereitschaft führt ihn den Weg hinauf zur Schau der Sterne. Die Reise endet im Paradies, begleitet von Beatrice, mit dem Flug ins reine Licht, hinauf zu «der Liebe, die bewegt die Sonn und Sterne» (l’amor che move il sole e l’altre stelle. Paradiso, XXXIII., 145). 

Stefan Maul
Himmelfahrten und Abstieg in die Unterwelt - Altorientalische Mythen über Jenseitsreisen 

Stefan Maul zeigt uns die Schönheit altorientalischer Mythen und macht uns mit seinen Deutungen deren unverminderte Aktualität bewusst. Zwar ist Gilgamesch bis ans Ende der Welt vorgedrungen und hat gar die «Wasser des Todes» überquert, doch auch er, der Gottgleiche, muss in die Welt der Menschen zurückkehren und deren schmerzliche Vergänglichkeit annehmen. Vom Überschreiten der Grenzen handelt auch der Mythos von der Himmelsreise des Adapa. Adapa ist der Weise schlechthin und als solcher ein Gefolgsmann des Weisheitsgottes Ea. Der Mythos schildert in überaus menschlicher Art die enge, fast intim zu nennende Verbindung zwischen Gott und Mensch. Ea ist es, der seinem Schützling die Macht des Gotteswortes und damit Weisheit verleiht. Die Gottesgabe gibt Adapa Macht über Dämonen und Unheilskräfte. Doch wie ist es dazu gekommen? Wie der Mythos bildhaft erzählt, dadurch, dass Adapa bei seinem Versuch, dem Gott einen Fisch als Opfergabe zu holen, ins Wasser gefallen und damit ganz ins Element des Ea, des Herrn des Süsswasserozeans, eingetaucht, wir könnten auch sagen: ‚getauft’, worden ist. Im altorientalischen mythischen Denken verbinden sich die Elemente der Gottheiten mit der irdischen Welt zu einem einzigen transzendenten Raum. Der Gott selbst überschreitet die Grenzen, indem er den sterblichen Menschen mit göttlichen Eigenschaften begabt. In einem zweiten Teil schildert Stefan Maul Enkidus Reise in die Unterwelt, wie sie im Gilgamesch Epos erzählt wird. Diese zeigt den brutalen und unerbittlichen Aspekt des Todes: Der Tod überwältigt den Menschen wie ein seine Beute zerreissendes Tier. Die Unterwelt bleibt ein «Land ohne Wiederkehr» – Gilgamesch musste es bitter erfahren. «Mag einer noch so hoch sein, zum Himmel kann er nicht kommen...», wie ein sumerisches Sprichwort sagt. 

Erik Hornung
Im Reich des Osiris

Erik Hornung beginnt mit einem Zitat von Novalis, das er, damals noch Student in Göttingen, in einer Vorlesung über die deutsche Romantik gehört hat: «Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht». Das Thema der Nacht hat ihn nie mehr losgelassen; es war ihm Impuls seiner Dissertation über die «Nacht und Finsternis im Weltbild der alten Ägypter» und hat schliesslich sein ganzes wissenschaftliches Werk befruchtet. Ihm (und seiner Mitarbeiterin Elisabeth Staehelin) kommt denn auch das unermessliche Verdienst zu, die Texte der Unterweltsbücher sowie des ägyptischen Totenbuches in ihrer wahren Bedeutung erkannt und in einer hervorragenden deutschen Übersetzung vorgelegt zu haben. Auch in dem vorliegenden Beitrag über das Reich des Osiris geht es einmal mehr um die dunkle Welttiefe als Ort von Regeneration und Erneuerung. Erik Hornung führt uns zunächst durch die zwölf Nachtstunden des Pfortenbuches, dessen erste vollständige Fassung wir auf dem Sarkophag von Sethos I. finden. Anders als im älteren Amduat werden die einzelnen Nachtstunden hier durch die Tore gegliedert. Neu ist auch, die Gerichtshalle des Osiris, die der Vereinigung des Sonnengottes mit seinem Leichnam in der tiefsten mitternächtlichen Stunde vorangestellt ist. Osiris ist nicht mehr der passive Herrscher der Unterwelt, er tritt vielmehr als Handelnder auf. Überall begegnen wir dem für die ägyptischen Unterweltsvorstellungen so typischen Kontrast zwischen den selig Verstorbenen, die am paradiesischen Fortleben teilhaben und reichlich mit Korn und andern Gaben des Lebens versorgt werden auf der einen, und den Sonnenfeinden, deren Bestrafung durch furchterregende Dämonen und feuerspeienden Schlangen aller Art sichergestellt ist auf der andern Seite. Das ganze Wunder der Erneuerung aus der dunklen Welttiefe und den Urgewässern des Nun bis zum Jubel der gesamten Schöpfung bei Sonnenaufgang, in den selbst die Paviane mit einstimmen, verdichtet sich im Schlussbild des Pfortenbuches in unübertrefflicher Weise. So war es denn auch diese Szene, die in unzähligen Varianten bis in die Spätzeit nachgewirkt hat. Es ist Erik Hornung gelungen, die lebendige Dynamik der ägyptischen Unterwelt einmal mehr in beeindruckender Weise zu schildern. 

Christian Robert Lange
Islamische Höllenvorstellungen - Genese, Struktur und Funktion

Der Islamwissenschafter Christian Lange berichtet über islamische Höllenvorstellungen. Während es in der auf den Propheten Muhammad zurückgeführten Traditionsliteratur, dem Hadith, noch heisst, dass Gottes Gnade seinen Zorn überwiege, weshalb gegenüber Höllenbeschreibungen eine gewisse Zurückhaltung geübt wird, ergibt sich in der späteren Volksliteratur ein viel bunteres Bild von der Hölle. Im Koran wie in der späteren scholastischen Theologie hat die Hölle (im Gegensatz zum Paradies) noch kein rechtes Eigenleben; hier überwiegt die Heilsgewissheit gegenüber den «Schrecken Gottes». Das ändert sich im 9. Jahrhundert mit der Entwicklung einer neuen Gattung: den Totenbüchern. In ihnen finden sich allerlei Jenseitsvisionen mit ausführlichen Beschreibungen der Hölle. Der Autor erwähnt den persischen Theologen und Mystiker Ghazali, der in seinen Werken die «Schrecken Gottes» heraufbeschwört und durch Höllendrohungen die Gläubigen mit der «Peitsche der Furcht» zu züchtigen versucht. Christian Lange spricht von der psychologischen Funktion der Hölle: Die Beschreibung der «Schrecken Gottes» soll die eigene Sündhaftigkeit bewusst machen. Damit beginnt die Reise ins Innere der Seele. Die Höllenangst und die Erlösungssehnsucht stehen unmittelbar nebeneinander. Paradies und Hölle aber, und darauf zielen die Ausführungen von Christian Lange, können nicht komplett in die eschatologische Zukunft verlegt werden. Wie die islamischen Höllenvisionen zeigen, sind sie gleichzeitig Abbilder des irdischen Lebens, ein warnendes Vorbild sozusagen. Das Jenseits, auch die Hölle, wird nicht aus der Welt verbannt, es wird gewissermassen ins Diesseits hineingenommen.